Donnerstag, 31. März 2016

Verfluchter Feigenbaum II


Mk 11:13 Und ER sah einen Feigenbaum ... der Blätter hatte
1) Das Markusevangelium erwähnt den Feigenbaum im 11. Kapitel (Feigenbaumverfluchung) und im 13. Kapitel (Feigenbaumgleichnis). Die Erzählung von der Feigenbaumverfluchung weist eine Eigenheit auf, die zwar offensichtlich ist, aber bei der Auslegung häufig übersehen wird. Es handelt sich nämlich um eine Dreiecksgeschichte. Die „Personen“ der Handlung sind Jesus, der Feigenbaum und die Jünger.

Eine Gliederung der miteinander verbundenen Textabschnitte Mk 11:12-14 und Mk 11:20-25 könnte wie folgt aussehen:

Mk 11:20 Und ... SIE sahen den Feigenbaum ausgetrocknet

- Jesus und der Feigenbaum - Mk 11:12-14a
- Die Reaktion der Jünger - Mk 11:14b, 11:20-21
- Jesus belehrt die Jünger - Mk 11:22-25


Dass die Jünger einen wichtigen Bestandteil der Geschichte bilden, wird durch zwei weitere Umstände bestätigt.

Zum einen sind die Antworten von Jesus gegenüber dem Feigenbaum und den Jüngern auffällig parallel formuliert.



Feigenbaum (Mk 11:14) καὶ ἀποκριθεὶς εἶπεν αὐτῇ - Und bescheidend (er) sagte ihm
Jünger (Mk 11:22) καὶ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς λέγει αὐτοῖς - Und bescheidend der Jesus sagt ihnen

Zum anderen sind der Feigenbaum und die Jünger auch im Feigenbaumgleichnis in Mk 13:28ff nebeneinander in eine gemeinsame Reihe gestellt:

28 Ἀπὸ δὲ τῆς συκῆς μάθετε τὴν παραβολήν· ὅταν ἤδη ὁ κλάδος αὐτῆς ἁπαλὸς γένηται καὶ ἐκφύῃ τὰ φύλλα, γινώσκετε ὅτι ἐγγὺς τὸ θέρος ἐστίν
28 Aber<->von dem Feigenbaum lernt das Gleichnis: Sobald schon der Zweig (von) ihm zart wird und auswächst die Blätter, erkennt, dass nahe der Sommer ist;

29 οὕτως καὶ ὑμεῖς, ὅταν ἴδητε ταῦτα γινόμενα, γινώσκετε ὅτι ἐγγύς ἐστιν ἐπὶ θύραις.
29 Derart auch ihr: Sobald (ihr) seht, diese werdend, erkennt, dass nahe ist auf Türen.


2) Jesus und der Feigenbaum - Die sogenannte Verfluchung

Wer das Markusevangelium liest, ohne hin und wieder zu schmunzeln, dem sind meines Erachtens einige Aspekte der Erzählung entgangen. Ich meine, dass auch Mk 11:14b so ein Schmunzler ist:

καὶ ἤκουον οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ.
Und (es) hörten die Jünger (von) ihm.

Erstmals wird im Markusevangelium ausdrücklich davon berichtet, dass die Jünger einen Ausspruch von Jesus „gehört“ haben. Noch in Mk 8:18 hatte Jesus ihnen vorgeworfen, dass sie nicht hören („Habt Augen und seht nicht, und habt Ohren und hört nicht“). Als zehn Jünger in Mk 10:41 zum ersten Mal ausdrücklich etwas „hören“, ist es die Bitte von Johannes und Jakobus um eine Vorrangstellung, die zum Gezänk im Jüngerkreis führt („Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes.“) Nun hören die Jünger also erstmals bei einem Ausspruch von Jesus genau zu, der sich freilich nicht an sie richtet, sondern an den Feigenbaum.

14 καὶ ἀποκριθεὶς εἶπεν αὐτῇ, Μηκέτι εἰς τὸν αἰῶνα ἐκ σοῦ μηδεὶς καρπὸν φάγοι.
14 Und bescheidend (er) sagte ihm: Nicht-mehr in dem Äon aus dir keiner Frucht essen (möge)!

Das Verb „φάγοι“ (essen möge) steht im Optativ-Modus, der im Altgriechischen einen Wunsch des Sprechers ausdrückt. Obwohl Jesus zu dem Feigenbaum spricht, sind die Adressaten des Wunsches offensichtlich die in Betracht kommenden Fruchtesser („keiner möge essen“). Jesus' Wunsch setzt demgemäß voraus, dass im späteren Jahresverlauf Frucht am Feigenbaum gedeihen wird, von der eben nur keiner mehr essen solle. Dieser Wunsch scheint mit Jesus' eigenem Entschluss künftiger Enthaltsamkeit in Mk 14:25 verwandt zu sein: „Amen, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes.“ In beiden Zukunftsvorstellungen von Jesus käme danach weiterhin Frucht zum Tragen (Feigen und Wein), von der allerdings zunächst Enthaltsamkeit geübt werden soll.

---> Es macht also nicht den Eindruck, als ob der Feigenbaum etwas von Jesus zu befürchten hätte.


3) Die Reaktion der Jünger

An diesen Ausspruch von Jesus schließt im Markusevangelium die Reaktion der Jünger an, deren Sprecher Petrus am nächsten Tag Stellung nimmt.

21 καὶ ἀναμνησθεὶς ὁ Πέτρος λέγει αὐτῷ, Ῥαββί, ἴδε ἡ συκῆ ἣν κατηράσω ἐξήρανται.
21 Und erinnert (wordend) der Petrus sagt ihm: Rabbi, sieh, der Feigenbaum, welchen (du) verflucht (hast), (ist) ausgetrocknet.

Der Wortlaut von Petrus’ Hinweis an Jesus ist auf den ersten Blick wertfrei. Petrus mag Jesus nur auf das aufmerksam machen, was er gesehen hat und von dem er möglicherweise annimmt, es vor Jesus entdeckt zu haben („Rabbi, sieh …“). Im Kontext von zwei anderen Schriftstellen scheint Petrus’ Antwort jedoch Respekt gegenüber Jesus und Einverständnis über den verdorrten Feigenbaum ausdrücken. Es handelt sich dabei um Mk 9:5 und Mk 13:1.

Die von Petrus gewählte Anrede „Rabbi“ meint ursprünglich nicht einen „Lehrer“, sondern leitet sich von einem Wort für „groß“ oder „viel“ ab. Ein „Rabbi“ ist ein „Großer“ bzw. ein „Meister“ im Sinne einer übergeordneten Autoritätsperson. Die hebräische Bibel verwendet das Substantiv „Rab“ etwa für Vorsteher (Esther 1:8), Oberster (Daniel 1:3), Anführer bzw. Offizier (Jeremia 39:9) oder Kapitän (Jona 1:6).

Petrus spricht Jesus zwei Mal mit „Rabbi“ an, neben Mk 11:21 noch in Mk 9:5 - „Und Petrus fing an und sprach zu Jesus: Rabbi, hier ist für uns gut sein. Wir wollen drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.“ Es wird deutlich, dass Petrus in Mk 9:5 gegenüber Jesus seinen besonderen Respekt als einem „Großen“ und seine Zufriedenheit über die Situation im allgemeinen bekundet.

In Mk 13:1 findet sich ein im Vergleich zu Mk 11:21 recht ähnlicher Hinweis eines Jüngers, der Jesus augenscheinlich bewundernd und dessen Zustimmung suchend auf etwas aufmerksam macht: „Und als er aus dem Tempel ging, sprach zu ihm einer seiner Jünger: Lehrer (griech: Didaskale), siehe, was für Steine und was für Bauten!“ Auch diese Aussage ist nach ihrem Wortlaut wertfrei und lediglich auf etwas hinweisend, dennoch schwingt hier merklich der Ausdruck von Bewunderung mit.

Insbesondere die Anrede „Rabbi“ scheint jedenfalls in Mk 11:21 eine Respektsbekundung und Zustimmung durch Petrus auszudrücken.

---> Unerwartet scheint es also doch ein böses Ende mit dem armen Feigenbaum genommen zu haben, worüber die Jünger nicht unzufrieden sind.


4) Die Belehrung der Jünger

Auf den ersten Blick beinhaltet die Entgegnung von Jesus einen erheblichen Sinnsprung oder abrupten Themenwechsel. Über den verdorrten Feigenbaum verliert Jesus nicht ein einziges Wort. Man könnte fast meinen, dass er mit hochmögenden Predigten über das Gottvertrauen vom Thema ablenken möchte.

22 καὶ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς λέγει αὐτοῖς, Ἔχετε πίστιν θεοῦ.
22 Und bescheidend der Jesus sagt ihnen: Habt Vertrauen Gottes!

23 ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι ὃς ἂν εἴπῃ τῷ ὄρει τούτῳ, Ἄρθητι καὶ βλήθητι εἰς τὴν θάλασσαν, καὶ μὴ διακριθῇ ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ ἀλλὰ πιστεύῃ ὅτι ὃ λαλεῖ γίνεται, ἔσται αὐτῷ.
23 Amen, (ich) sage euch, dass wer auch (immer) sage dem Berg – diesem -: Gehoben (werde) und geworfen (werde) in das Meer! - und nicht zweifelt {wörtl.: abscheidet} in dem Herz (von) ihm, sondern vertraut, dass - was (er) redet - geschieht, es (wird) sein (für) ihn.

Folgt man jedoch dem Gang der Erzählung, ergibt sich etwas ganz anderes: Für Jesus war die Angelegenheit mit dem Feigenbaum wohl bereits am Vortag und mit dem von ihm geäußerten Wunsch („keiner möge essen“) abgeschlossen. Offenbar besteht auch jetzt für ihn nicht der allergeringste Anlass, sich erneut zum Feigenbaum zu äußern. Es sind die Jünger, die die Frage nach dem Feigenbaum am Folgetag erneut aufwerfen. Jesus Antwort bezieht sich daher allein auf die Jünger und die Äußerung von Petrus.

Im Griechischen ist in Mk 11:23 deutlich, dass Jesus einen ganz bestimmten Berg meint „τῷ ὄρει τούτῳ“ (dem Berg - diesem). In der Erzählwelt des Markusevangeliums, in welcher der historische Tempelberg von Jerusalem nicht vorkommt, sind alle ausdrücklich genannten und näher spezifizierten Berge mit den Jüngern verknüpft: der Berg der Jüngerberufung (Mk 3:13ff), der Berg der Verklärung (Mk 9:2) und – wie ich im letzten Beitrag vorschlug – auch der Ölberg (Mk 11:1, 13:3, 14:26). Unabhängig davon, welcher spezielle Berg hier von Jesus gemeint ist, spricht viel dafür, dass es eben ein „Jünger-Berg“ ist, der im Meer versenkt werden könne. Die Rede von Jesus in Mk 11:23 kann daher als eine Warnung an die Jünger interpretiert werden.

Auf der sprachlichen Ebene findet sich zudem zwischen dem Feigenbaum und dem Berg eine Entsprechung, die in der Übersetzung nicht ersichtlich ist. Dass von Markus in Mk 11:21 verwendete Wort für „verfluchen“ (καταράομαι – kataraomai) ist ein zusammengesetztes Wort aus der Vorsilbe „nieder“ und einem Verb für „beten/bitten/wünschen“. Eine mögliche Übersetzung wäre also auch „niederbeten“ an Stelle von „verfluchen“. Der Wortstamm des Verbes „beten/bitten/wünschen“ ist zugleich mit dem Verb „heben“ (αἴρω – airó) verwandt - möglicherweise bildlich, da man im Gebet seine Stimme zum Himmel „erhebt“. Zwischen der Aussage von Petrus über das „Niederbeten“ des Feigenbaums und der Rede von Jesus über das „Gehobenwerden“ des Berges und dessen „Geworfenwerden“ besteht daher eine sprachliche Verknüpfung und ein Sinnzusammenhang. Sowohl der Feigenbaum als auch der Berg „erleiden“ auf der sprachlichen Ebene verwerfende Bewegungen des Hebens und des Zufallbringens.

---> Dies zugrunde gelegt, wäre der Sinnverlauf der Erzählung bislang folgender:

1. Die für Jesus enttäuschende Begegnung mit dem Feigenbaum ist mit seinem Wunsch abgeschlossen, dass niemand mehr Frucht vom Baum essen möge
2. Petrus interpretiert am Folgetag dieses Geschehen als „Verfluchung“ und absichtliches „Zufallbringen“ des Baumes und bekundet dazu sein Einverständnis
3. Jesus weist die Jünger zurecht und warnt sie davor, dass eine solche Haltung sich auch gegen sie selbst richten und ihr Berg verworfen werden könne

Bei diesem angenommenen Erzählverlauf hätte also nicht der Wunsch von Jesus eine „feindliche“ Richtung gegen den Feigenbaum, sondern die Interpretation von Petrus. Dem scheint die weitere Bemerkung von Jesus gegenüber den Jüngern in Mk 11:25 zu entsprechen: „falls ihr etwas habt gegen einige

25 καὶ ὅταν στήκετε προσευχόμενοι, ἀφίετε εἴ τι ἔχετε κατά τινος, ἵνα καὶ ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς ἀφῇ ὑμῖν τὰ παραπτώματα ὑμῶν.
25 Und wenn ihr steht – betend - erlasst, falls etwas (ihr) habt gegen einige, damit auch der Vater (von) euch, der in den Himmeln, erlasse euch die Verfehlungen (von) euch!


5) Eine Frage der Sichtweise

5.1) Die Begegnungen mit dem Feigenbaum sind im Markusevangelium jeweils aus einem subjektiven Blickwinkel erzählt. In Mk 11:13 „sieht“ Jesus zunächst einen Feigenbaum, der Blätter hat, auf dem er aber auch nur Blätter vorfindet.

13 καὶ ἰδὼν συκῆν ἀπὸ μακρόθεν ἔχουσαν φύλλα ...
13 Und (er) gesehen (habend) Feigenbaum von weitem, habend Blätter, ...

Im Feigenbaumgleichnis in Mk 13:28 spricht Jesus erneut von dem Feigenbaum und seinen Blättern:

28 Ἀπὸ δὲ τῆς συκῆς μάθετε τὴν παραβολήν· ὅταν ἤδη ὁ κλάδος αὐτῆς ἁπαλὸς γένηται καὶ ἐκφύῃ τὰ φύλλα, γινώσκετε ὅτι ἐγγὺς τὸ θέρος ἐστίν 
28 Aber<->von dem Feigenbaum lernt das Gleichnis: Sobald schon der Zweig (von) ihm zart wird und auswächst die Blätter, erkennt, dass nahe der Sommer ist

Meines Erachtens ist es offensichtlich, dass es sich hier um denselben Feigenbaum handelt und das Jesus von ihm in einer Weise spricht, als habe es eine Verfluchung und eine Verdorrung objektiv nie gegeben.

5.2) In Mk 11:20 waren es hingegen die Jünger, die den Feigenbaum bis in die Wurzeln vertrocknet „sahen“.

20 Καὶ παραπορευόμενοι πρωῒ εἶδον τὴν συκῆν ἐξηραμμένην ἐκ ῥιζῶν.
20 Und vorbeigelangt früh, (sie) sahen den Feigenbaum ausgetrocknet aus Wurzeln.

Petrus fordert Jesus in Mk 11:21 auch auf, den Feigenbaum ebenfalls als vertrocknet zu „sehen“:

21 ... Ῥαββί, ἴδε ἡ συκῆ ... ἐξήρανται.
21 … Rabbi, sieh, der Feigenbaum … (ist) ausgetrocknet.

5.3) In Mk 13:29 ist es im Gegenzug Jesus, der im Feigenbaumgleichnis das „Sehen“ der Jünger problematisiert.

29 οὕτως καὶ ὑμεῖς, ὅταν ἴδητε ταῦτα γινόμενα, γινώσκετε ὅτι ἐγγύς ἐστιν ἐπὶ θύραις.
29 Derart auch ihr. Sobald (ihr) seht, diese werdend, erkennt, dass nahe ist auf Türen.

Anscheinend haben sowohl der Feigenbaum als auch die Jünger ein Problem: der Feigenbaum mit unzeitgemäßen Früchten und die Jünger mit ihren Augen.


Ich breche diese Zeilen an dieser Stelle etwas nachdenklich ab und frage mich, ob vielleicht jemand anderes diese Geschichte auch so „sehen“ könnte. Es ist schon etwas kühn, nicht wahr? Andererseits glaube ich – oder mache mich nur glauben –, dass ich lediglich dem von Markus vorgegebenen Erzählverlauf gefolgt bin und mehr Vertrauen in Jesus' Worte gesetzt habe als in die Sichtweise von Petrus.

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