Freitag, 13. November 2015

Die Schriftgelehrten als Hauptgegner von Jesus


1) Nach allgemeiner Meinung gelten die Pharisäer als hauptsächliche Widersacher von Jesus. Dem entspricht, dass sie in den Evangelien 89 Mal erwähnt werden, die Schriftgelehrten nur 59 Mal. Im Markusevangelium ist das Verhältnis jedoch umgekehrt. Schriftgelehrte (γραμματεῖς – grammateis) nennt Markus 21 Mal, Pharisäer (Φαρισαῖοι - Pharisaioi) hingegen lediglich 12 Mal. Dabei sind beide Gruppen nicht strikt voneinander getrennt. In Mk 2:16 begegnet man auch den „Schriftgelehrten der Pharisäer“.

Ein weiterer Unterschied der Evangelien betrifft das Profil dieser Gegner. Während die Unterscheidung von Pharisäern und Schriftgelehrten bei Matthäus und Lukas eher diffus ist (eine vage Ausnahme mag Lk 11:37ff sein), sind bei Markus die Pharisäer von den Schriftgelehrten deutlich zu unterscheiden, wie Dieter Lührmann bereits vor knapp 30 Jahren gezeigt hat.
Mk 2:6 "Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und
dachten in ihren Herzen ..." - via commons.wikimedia

Die Kritik der Pharisäer bei Markus zielt auf den durch das Recht (Halacha) gebotenen Lebenswandel (Fastenfrage Mk 2:18, Sabbatfrage Mk 2:24, Speisegebote Mk 7:5, Ehescheidung Mk 10:2, Steuerfrage Mk 12:13). Die Schriftgelehrten bestreiten hingegen die göttliche Vollmacht von Jesus und stellen ihn als von Beelzebul besessen dar (Mk 2:6, 3:22, 11:27, 12:35), lehren eine andere Auslegung der Schriften der hebräischen Bibel (Mk 9:11, 12:35) und planen mit den Hohenpriestern und Ältesten die Tötung von Jesus (8:33, 10:33, 11:18, 14:1, 14:43, 14:53, 15:1).

Die Rivalität zwischen Jesus und den Schriftgelehrten hebt Markus noch zusätzlich durch zwei Stellen hervor: In Mk 1:22 heißt es über Jesus, dass er „in Vollmacht lehrt und nicht wie die Schriftgelehrten“. In Mk 12:38ff sind es schließlich die Schriftgelehrten, die im Markusevangelium unter allen Gegnern am kritischsten beurteilt werden: „Und er lehrte sie und sprach zu ihnen: Seht euch vor vor den Schriftgelehrten, die gern in langen Gewändern gehen und lassen sich auf dem Markt grüßen und sitzen gern obenan in den Synagogen und am Tisch beim Mahl; sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete. Die werden ein umso härteres Urteil empfangen.

Ein Schwarz-Weiß-Denken finden wir bei Markus gleichwohl nicht. Die lobenswerte Ausnahme aus dem Kreis seiner Gegner kommt ausgerechnet aus dem Lager der Schriftgelehrten – Mk 12:28ff.

Soweit der mir ersichtliche Stand der Wissenschaft. Ich mag hierzu eine Beobachtung ergänzen: Die Pharisäer wagen im Markusevangelium stets die offene Diskussion mit Jesus, die Schriftgelehrten meiden sie hingegen, versuchen aber die Jünger und das Volk zu beeinflussen.



2) Die Pharisäer fordern Jesu im Markusevangelium immer öffentlich heraus. Sie scheuen keine Diskussion mit ihm (Mk 2:24 „Und die Pharisäer sprachen zu ihm: ...“, 8:11 „Und die Pharisäer kamen heraus und fingen an, mit ihm zu streiten ...“, 10:2 „Und Pharisäer traten zu ihm und fragten ihn ...“).

Die Schriftgelehrten agieren hingegen aus dem Hinterhalt. Sobald sie Jesus allein gegenüber stehen, wagen sie nie die direkte Konfrontation mit ihm, versuchen aber „hinter seinem Rücken“ die Jünger und die Volksmenge zu beeinflussen. Lediglich in den Fällen, in denen sie mit einer weiteren Gruppe von Gegnern gemeinsam auftreten, sind sie als Beteiligte einer Diskussion mit Jesus erwähnt, dabei aber nie an erster Stelle.

2.1) Obwohl die Schriftgelehrten offensichtlich entschieden anderer Auffassung sind, äußern sie sich in Mk 2:6f nicht, sondern denken sich nur ihren Teil: „Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“, werden daraufhin von Jesus direkt angesprochen, ohne ihm Antwort zu geben.

In Mk 2:26 wenden sich die „Schriftgelehrten der Pharisäer“ nicht an Jesus, sondern lediglich an die Jünger („Isst er mit den Zöllnern und Sündern?“), ebenso in Mk 9:14, in Mk 3:22 verbreiten die „von Jerusalem herabgekommenen“ Schriftgelehrten Meinungen unter dem Volk („Er hat den Beelzebul“, und: „Er treibt die bösen Geister aus durch ihren Obersten“).

Obwohl Jesus in Mk 12:35 die theologische Auffassung der Schriftgelehrten öffentlich in Frage stellt, nach der der Christus ein Sohn Davids sei, stellen sich die Schriftgelehrten seiner Rede nicht entgegen - anders als Jesus in Mk 3:23 gegen den Beelzebul-Vorwurf der Schriftgelehrten.

2.2) In Mk 7:1.5 treten sie gemeinsam mit den Pharisäern auf, werden aber beide Male in der Aufzählung nach den Pharisäern genannt (Mk 7:5 - "Da fragten ihn die Pharisäer und Schriftgelehrten: Warum leben deine Jünger nicht nach den Satzungen der Ältesten, sondern essen das Brot mit unreinen Händen?")

An vier Stellen sind die Schriftgelehrten gemeinsam mit den Hohenpriestern genannt, auch hier jeweils nach ihnen. (Mk 10:33 „... und der Menschensohn wird überantwortet werden den Hohenpriestern und Schriftgelehrten...“, Mk 11:18 „Und es kam vor die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und sie trachteten danach, wie sie ihn umbrächten.“, Mk 14:1 „Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten.“, Mk 15:31 „Desgleichen verspotteten ihn auch die Hohenpriester untereinander samt den Schriftgelehrten ...“)

Fünf Stellen widmen sich dem Dreierbund Hohenpriester, Älteste und Schriftgelehrte, wobei an vier von ihnen die Hohenpriester als erste genannt sind (Mk 11:27, 14:43, 14:53, 15:1). Zwei dieser Verse, die die konkrete Verfolgung von Jesus betreffen, nennen die Schriftgelehrte als zweite vor den Ältesten (Mk 11:27 „Und als er im Tempel umherging, kamen zu ihm die Hohenpriester und Schriftgelehrten und Ältesten ...“, Mk 14:43 „... kam herzu Judas … und mit ihm eine Schar mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten und Ältesten.“) Bei der Durchführung des Gerichtsverfahrens werden sie hingegen an dritter Stelle hinter den Ältesten angeführt (Mk 14:53 „Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester; und es versammelten sich alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten.“ Mk 15:1 „... hielten die Hohenpriester Rat mit den Ältesten und Schriftgelehrten … und sie banden Jesus, führten ihn ab und überantworteten ihn Pilatus.“)

Bei der Leidensankündigung in Mk 8:31 stehen die Ältesten vor den Hohenpriestern und Schriftgelehrten an erster Stelle: „Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.

2.3) Mein Eindruck ist, dass die Zuerstnennung der Ältesten in Mk 8:31 nichts über diese Gruppe direkt aussagen soll, sondern vielmehr indirekt etwas über die Schriftgelehrten: Dass sich die Schriftgelehrten stets hinter anderen verstecken.

Die Ältesten sind im Markusevangelium die lautlosesten Gegner, sie treten nie allein auf und werden nur selten erwähnt. Ihre Nennung an erster Stelle in Mk 8:31 noch vor den Hohenpriestern und Schriftgelehrten (als den eigentlichen „Mordtreibern“) wirkt meines Erachtens inhaltlich verfehlt und scheint deshalb eher auf etwas ganz anderes zu verweisen, dass nämlich die Schriftgelehrten nie an erster Stelle genannt sind.


3) Im biblischen Hintergrund des markinischen Themas der Schriftgelehrten als den Hauptgegnern von Jesus liegt gewiss Jeremia 8:8. Für die in der Luther-Übersetzung genannten „Schreiber“ verwenden die Septuaginta und Markus exakt das gleiche Wort - γραμματεῖς (grammateis).

5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
6 Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.
8 Wie könnt ihr sagen: »Wir sind weise und haben das Gesetz des HERRN bei uns«? Ist's doch lauter Lüge, was die Schreiber (γραμματεῦσιν - grammateusin) daraus machen.
9 Die Weisen müssen zuschanden, erschreckt und gefangen werden; denn was können sie Weises lehren, wenn sie des HERRN Wort verwerfen?
...
12 Sie werden mit Schande dastehen, weil sie solche Gräuel getrieben haben; aber sie wollen sich nicht schämen und wissen nichts von Scham. Darum sollen sie fallen unter den Fallenden, und wenn ich sie heimsuchen werde, sollen sie stürzen, spricht der HERR.
13 Ich will unter ihnen Lese halten, spricht der HERR, sodass keine Trauben am Weinstock und keine Feigen am Feigenbaum übrig bleiben, ja, auch die Blätter abfallen sollen; und was ich ihnen gegeben habe, das soll ihnen genommen werden.“

Auf Jeremia 8:13 wird Markus beim Gleichnis vom Feigenbaum (Mk 11:12, 11:20, 13:28) auch zurückkommen.

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