Freitag, 20. September 2013

Kampf der Evangelien-Literatur: Kanon > < Apokryphen


Teil 2 – Viertelfinale: Markus-Evangelium > < Exegese der Seele

Die „Exegese der Seele“ (ExAn - Exegesis de Anima, auch „Erzählung über die Seele“) ist eine sogenannte Nag-Hammadi-Schrift. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihr um einen Predigttext in erzählerischer Form. Im Mittelpunkt der Erzählung steht nicht der Erlöser Jesus Christus, sondern die Seele als Erlösungs-“Objekt“ und sie geht etwa so: Nach dem Fall aus den Himmeln und den schmerzlichen „irdischen Irrfahrten“ der Seele, die personal als Frau beschrieben ist, nach Umkehr und Hinwendung zu Gott findet sie schließlich in der geistlichen Hochzeit mit dem wahren Bräutigam Jesus Erlösung und Errettung. Aber, so heißt es in der „Erzählung über die Seele“, „der Anfang der Rettung ist die Umkehr. Deswegen 'kam vor der Ankunft Christi Johannes, indem er die Taufe der Buße verkündigte.'

Mit diesem „Anfang der Rettung“ setzt das Evangelium nach Markus ein. Werfen wir, um die Eigenart des markinischen Auftakts zu erfassen, zunächst einen Blick auf die zweite Szene (Mk 1, 9-11), die Taufe. Im Vers 9 hat Jesus seinen ersten „Auftritt“, Vorkenntnisse durch Markus besitzen wir über diese Figur noch nicht. Der Evangelist stellt ihn als „Jesus aus Nazareth in Galiläa“ vor, der „kam und ließ sich taufen von Johannes im Jordan“. Die erste Information, die wir über Jesus im Markusevangelium erhalten, ist also die über einen scheinbar x-beliebigen Johannestäufling, der sich nur durch Name und Herkunftsort ausweist. Ebenso gut, so der Eindruck von Vers 9, hätte es sich auch um irgendeinen Samuel aus Hebron oder eine Mirjam aus Gadara handeln können. Bereits im Vers 10, in dem die Johannestaufe selbst zur bloßen Nebensache wird, öffnet sich der Himmel, der „Geist“ senkt sich auf Jesus herab und eine begleitende himmlische Stimme ertönt in Vers 10: „Du bist mein geliebter Sohn ...“. Markus betont oder erläutert diese Einzelheiten und deren Abfolge jedoch nicht sonderlich, verweilt hier auch nur so kurz wie möglich und treibt Jesus übergangslos durch den Geist für 40 Tage in die Wüste.


Ganz naiv könnte man an die Taufszene eine Reihe von Fragen stellen, so zum Beispiel (nur scheinbar blasphemisch), ob sich das Herabsenken des Geistes und die Ansage der himmlischen Stimme etwa bei allen oder zumindest mehreren Johannestaufen, bei allen oder mehreren Täuflingen ereigneten oder eben doch nur bei Jesus ? Klar ist das keineswegs (nicht umsonst hat Matthäus hier mit einem "Dies ist mein lieber Sohn" eingegriffen). Auf rein textlicher Ebene sind diese Geschehnisse jedenfalls nicht hervorgehoben oder als etwas Einzigartiges geschildert. Es ereignet sich zweifellos Wunderbares, aber Markus schildert es als Alltägliches und verweilt dabei nicht einen Moment. Das Geschehen ist fast stichwortartig und leicht sprunghaft geschildert, die Zusammenhänge undeutlich und wären da nicht einige Wendungen, könnte der Eindruck entstehen, dass der Text lediglich eine Arbeitsskizze des Autors darstellt, der seine eigentliche Erzählung im Detail noch weiter ausarbeiten muss und wird. Wir werden von diesem Anfang etwas „überrumpelt“, ohne einen klaren Gedanken zu erhaschen, und es stellt sich schnell die Frage, ob dieser Verfasser „so schlecht ist“ oder ob er damit etwas bezweckt ?

Die Schilderung des Anfangs der „Exegese der Seele“ verläuft ebenfalls in schnellen Schnitten. Es handelt sich jedoch nicht um eine „horizontale“ Szenenabfolge wie bei Markus, sondern um eine einzige kaskadenähnliche Szene. Zunächst befindet sich die präexistente Seele im Himmel, rein und unschuldig. Doch nach ihrem „Fall“ in einen Körper erleidet sie zunächst passiv gewaltsame Schändung, lässt sich alsdann verführen und täuschen und treibt schließlich auch selbst aktiv „Unzucht“. Immer tiefer verstrickt sie sich so in erlösungsbedürftige „Schuld“. Damit ist der Auftakt gemacht und Spannung erzeugt, wie sich die Seele wohl „aufrappeln“ und auf welchem Weg sie wohl weitergehen wird, um Erlösung zu erlangen. Dem Leser ist bereits klar, dass ein „Happy End“ in Sichtweite ist, spannend bleibt aber der den Hörer/Leser auch selbst betreffende Weg dorthin. Dabei fallen zwei Einzelheiten besonders ins Auge: 1. dass die Seele im Himmel zwar Jungfrau, aber „mannweiblich“ von Gestalt ist und 2. dass sie einen Mutterschoß, eine „Gebärmutter“ besitzt, (beides macht neugierig, lässt aufhorchen, letzteres auch die kundige Leserschaft von Philon von Alexandria, der dies ebenfalls so postuliert hatte).

Bei Markus fällt neben kleinen hervorstechenden, scheinbar aber unwichtigen Details (z.B. Speise und Kleidung des Täufers) auf, dass er in seiner schnellen Bilderabfolge ein Thema anreißt, es aber zugleich wieder abbricht bzw. nicht auf der vom Hörer/Leser erwarteten Linie fortführt, sondern es gewissermaßen „fehl“-leitet. Er beginnt mit dem Thema der frohen Botschaft von Jesus, springt jedoch gleich zu Jesaja, das von ihm angeführte angebliche Jesaja-Zitat stammt jedoch gar nicht von Jesaja, sondern es ist zum einen eine Verknüpfung von Maleachi und Jesaja und zum anderen „zitiert“ er nicht, sondern wandelt beide Schriftstellen leicht ab. Das vermeintliche „Zitat“ führt das Thema des „Vorläufers und Predigers in der Wüste“ ein, aber innerhalb des markinischen Anfangs werden uns sowohl Johannes als auch Jesus als in der Wüste seiend und als Prediger präsentiert. Mit dem Ausdruck „Ich sende meinen Boten vor Dir her“, scheint auch eher Jesus mit seinem Evangelium, "seiner frohen Botschaft“ selbst gemeint zu sein. Aber ebenso gut können wir es möglicherweise auch gemäß dem Matthäusevangelium und der traditionellen Sichtweise verstehen, so als ob Markus uns Johannes als Vorläufer und Wegbereiter Jesu vorstellt. Entscheidend bleibt bei Markus jedoch, dass wir darüber auf den ersten Blick im Unklaren belassen werden. Das Zitat sagt: „Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Steige eben!“, aber Markus schlägt selbst alles andere als einen geraden und eindeutigen Weg ein.

Dies setzt sich auch im Weiteren fort. Nach Markus predigt Johannes der Täufer seinem Publikum, dass nach ihm einer kommt, der euch "mit dem Heiligem Geist taufen“ wird. Jesus aber wird im gesamten Markusevangelium niemanden im direkten Wortsinn taufen, indes wird er selbst vom Himmel herab mit dem „Geist“ (von Gottvater ?) getauft. Alsdann ertönt die Stimme vom Himmel: „Du bist mein geliebter Sohn“ (Ist das ein „Happy Beginning“, auf das ein äußerlich scheinbar bitteres Ende - die Kreuzigung - folgt ?) und der unbefangene Leser/Hörer würde nun sicher erwarten, dass sich Jesus sogleich der am Jordan versammelten Menschenmenge zuwendet und predigt. Aber dies geschieht nicht, denn „alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste“. Hieran schließt sich eine Viererfolge von Umständen dieses Wüstenaufenthalts an, deren Bedeutung sich nicht sofort aufdrängt: war dort 40 Tage - wurde versucht von Satan - war bei wilden Tieren - Engel dienten ihm. Etwas sinnschräg erscheint auch die Fortsetzung: „Nachdem aber Johannes gefangen gesetzt war“, predigte Jesus „Die Zeit ist erfüllt ...“ - so als ob die Gefangennahme des Täufers zugleich als Zeichen die Erfüllung der Zeit anzeigt. Lediglich der Schlusspunkt ist als eindeutige und klare Aussage gesetzt: „Das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße ...“.

Bemerkenswert ist auch die äußerst passive Haltung, die uns von Jesus vermittelt wird. Sein einziges wirkliches „Handeln“ scheint zunächst darin zu bestehen, dass er zur Taufe kommt. Alles weitere stößt ihm eher zu, widerfährt ihm, ohne das er aktiv die Richtung vorgibt („ließ sich taufen“, „trieb ihn in die Wüste“, „wurde versucht“, „Engel dienten ihm“). Und stellt sich angesichts dessen nicht die Frage, WER hier zu predigen beginnt ? Ist das etwa dieser Jesus ? Oder ist es nicht vielmehr der „Geist“, der auf ihn herabgekommen ist ?



Wow ! Mein Tipp ist folgender: Einige Dinge verstehe ich nicht 100%ig, manches mag auch an der Übersetzung liegen. Aber die Tendenz scheint mir dennoch klar.

Was sich hinter diesem Anfang verbirgt, ist kein schriftstellerisches Unvermögen, sondern geniale Absicht. Bereits am Anfang seines Evangeliums hebt Markus zu seiner das gesamte Evangelium durchziehenden Zwiesprache und zu seinem ironischen Spiel mit dem Hörer/ Leser an, dessen wesentliche Stationen die unsichtbare Geisttaufe, das allgemeine Verkanntwerden Jesu von allen Seiten und die äußerlich als Niederlage erscheinende Kreuzigung sind. Das ganze Evangelium, das ganzes Geschehen ist ein leicht zu verkennendes Gleichnis, dessen Sinn nur diejenigen verstehen können, die im Sinne von Mk 4, 10 „drinnen“ sind. Genau deshalb hebt Markus mit einem verwirrenden Auftakt an: damit „die draußen“ nicht verstehen !

Für alle Außenstehenden endet diese Geschichte entgegen dem glücklichen Beginn („Du bist mein lieber Sohn“) ganz traurig, im Tod und in äußerster Enttäuschung. Diejenigen aber, die die inneren Zeichen zu lesen wissen, werden verstehen (und von Markus auch aufgezeigt bekommen), welche geheime Glorie sich hinter all den äußerlich verwirrenden, scheinbar negativen Zeichen verbirgt. Aber der Gläubige muss selbst geduldig sein, darf sich von scheinbaren Widersprüchen und Unklarheiten, von all dem was „Menschenvernunft“ verwirren und „versuchen“ kann, nicht ablenken lassen. Markus sagt seinen Hörern/ Lesern: Tu Buße und sei gläubig, sei zunächst passiv wie Jesus, der Dir gegebene Geist wird Dich leiten, so wie ich, Markus, Dich durch das Evangelium leiten werde, auch wenn Dich im Leben der Teufel versucht und im Verstehen – jedenfalls am Anfang - meine Verwirrungspiele, die der äußere Schein der Dinge sind.

Zum Abschluss – bevor der Juror das Wort hat – nebenbei eine Gretchenfrage: War der ursprüngliche Wortlaut von Mk 1, 1 „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ oder hieß es nur „von Jesus Christus“ ohne „Sohn Gottes“, wie es eine beachtliche Minderheit in den Handschriften belegt ? Auf den ersten Blick würde ich zu letzterem tendieren, zu OHNE „Sohn Gottes“. Aber als „red herring“ und „Wahrheit“ zugleich könnte die erste Möglichkeit hervorragend zum markinischen „Spiel“ passen. Jeder Hörer/Leser „startet“ mit der gleichen Voraussetzung: am Anfang lautet die Botschaft für alle „Jesus ist Sohn Gottes“, aber nicht für jeden wird sich dies am Ende noch erweisen, „drinnen“ und „draußen“ werden sich auseinander dividieren. Die traditionelle Antwort auf die Frage lautet, dass das nomen sacrum „Sohn Gottes“ beim Kopieren der Handschrift „versehentlich“ unter den Tisch gefallen ist. Mich überzeugt das nicht. Aber das wahre Markus-“Kenner“ ihn absichtlich entfernt haben könnten, um das „Spiel“ zu erschweren, um die Latte noch einmal höher zu legen, wäre ein schöner, vielleicht auch allzu schöner Gedanke ...

Ausgang des Duells

Ich hege eine ehrliche Liebe und Bewunderung für das Markus-Evangelium, aber seine enorme Kraft entfaltet es erst später und nicht in seinem Anfang. Ohne die entscheidende „Verstehenswende“ in Mk 4,11 wäre der Auftakt „fehlleitend“ und das ist er in schriftstellerischer Absicht auch. Dagegen steht der gedanklich klare, Spannung erzeugende und auch emotional einladende Auftakt der allerdings literarisch etwas einfacher „gestrickten“ Exegese der Seele, der ich hier den Vorzug gebe. Ins Halbfinale zieht damit die Exegese der Seele ein !

P.S. als Trostpflaster zwei meiner „genialen“ Lieblingsstellen in Markus

Markus 11, 12-26: Feigenbaum, Tempelreinigung
Durch den Hinweis „denn es war nicht die Zeit für Feigen“, macht Markus die Erzählung „kaputt“ bzw. „verrückt“ (Wieso verflucht Jesus einen Feigenbaum, der zu dieser Jahreszeit gar keine Früchte tragen kann ?). Der Evangelist gibt uns auf diese Weise einen Wink, damit wir verstehen, dass an der Geschichte „mehr“ dran, als es auf den ersten äußerlichen Blick erscheint. Durch das Dazwischenschieben der Tempelreinigung in die Feigenbaumgeschichte erkennen wir schließlich, dass mit dem verdorrten Feigenbaum der Tempel gemeint ist und das „jüdische“ (und heidnische ?) Tempelopfer vor Gott „keine Früchte“ mehr austragen, „christlicher“ Glaube und Gebet hingegen viel vermögen. (Das markinische Spiel von innen und außen, sichtbar und unsichtbar läuft hier zugleich auf textlicher und Bedeutungsebene.)

Markus 14, 65 (!) -72: Verleugnung des Petrus
In Mk 14, 30 prophezeit Jesus gegenüber Petrus, dass der ihn verleugnen werde. Nach Jesus` Verurteilung vor dem Hohen Rat (Mk 14,65) „fingen einige an, ihn anzuspeien und sein Angesicht zu verdecken und ihn mit Fäusten zu schlagen und zu ihm zu sagen: Weissage uns! Und die Knechte schlugen ihn ins Angesicht.“ In eben diesem Moment, in dem Jesus äußerlich am tiefsten gedemütigt und mit der Aufforderung zu prophezeien verspottet wird, geht seine Weissagung gegenüber Petrus „unten im Hof“ in Erfüllung. Auf den ersten Blick scheinbar am tiefsten gesunken, erweisen sich seine Weissagungen als wahr und er sich als Sohn Gottes. Keiner der Beteiligten, die doch alle so nah am Ort des Geschehens sind, versteht das ansatzweise, nur Petrus wird ein Teil dessen bewusst. Markus vollständige Pointe erkennen aber nur wir als Leser.


Teil 1 - Einführung
Teil 2 – Viertelfinale: Markus-Evangelium > < Exegese der Seele
Teil 3 – Viertelfinale: Lukas-Evangelium > < Nikodemus-Evangelium
Teil 4 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 4.2 - Viertelfinale Matthäus-Evangelium - Thomas-Evangelium
Teil 5 - Viertelfinale Johannes-Evangelium - "Das ist mein Wort – Alpha und Omega"
Teil 6 - Halbfinale Lukas-Evangelium – Exegese der Seele
Teil 7 - Halbfinale Johannes-Evangelium – Thomas-Evangelium
Teil 8 und Ende - Finale Lukas-Evangelium – Johannes-Evangelium

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